Leben teilen – Gedanken zum Besuch aus Tansania

30. November 2022 von Jörg Gintrowski

Als die Gäste aus Tansania in unserer Kirche zu Besuch waren, ist mir bewusst geworden, dass unsere Modelle des Zusammenlebens nicht optimal sind: Wir leben in "Kleinstfamilien" oder als Paare oder Singles. Mit dieser Vorstellung im Kopf hatte ich die Afrikaner gefragt, wie sie als Pastorinnen und Pfarrer einfach für zwei Wochen wegbleiben können, obwohl sie kleine Kinder haben? Ihre  Antwort: Gar kein Problem! Es gibt im normalen Haushalt immer einen Menge Leute, die Zeit haben, die selbstverständlich das Gemüse gießen, die Kinder wickeln usw. Das sind sogenannte "Brüder und Schwestern" oder "Tanten und Omas", die oft nur über drei Ecken verwandt sind. Wenn ein Familienmitglied ausfällt, ist da die "extended family" (erweiterte Familie); die fängt alles auf.

Tansania Essen kochen StrassenrandDie Schattenseite ist, dass es viel weniger individuelle Freiheit gibt: Du kannst nicht einfach ohne die Zustimmung der Familie irgendwohin ziehen, irgendeine Arbeit annehmen oder jemand heiraten. Das entscheidet niemand allein. Aber daran scheinen sie nicht besonders zu leiden, weil sie damit groß geworden sind. Aus ihrer Perspektive ist es dagegen seltsam, dass bei uns viele alte Leute ganz alleine leben. Das ist für sie fast genauso erschütternd, wie die Beobachtung, dass viele junge Erwachsene ohne Kinder leben.

Dass unser europäisches Modell nicht das Gelbe vom Ei ist, erleben meine Frau Kathrin und ich ganz handgreiflich: unsere Eltern wohnen weit weg und es ist fast unmöglich, den alten Eltern so beizustehen, wie sie gerade bräuchten. Auch unser Enkelkind sehen wir selten, weil unsere Kinder dem Studium und der Arbeit nachgezogen sind und weil wir am Wochenende ausgeplant sind. Ähnlich ging es uns, als unsere Kinder klein waren (und vielen aus unserer Gemeinde): Die Hilfe der Großeltern wäre dringend nötig gewesen, aber die waren weit weg und anderweitig eingespannt.

Überhaupt ist jeder stark eingebunden und ausgeplant. Man hat sich so stark beruflich und freizeitmäßig engagiert, dass für spontanes Zeit haben oder Helfen einfach keine Luft mehr bleibt. Wir erleben das auf Schritt und Tritt und ich freue mich umso mehr, dass viele trotzdem Zeit für die Gemeinde einsetzen!

Besuch Tansanier SeminarWas kann da besser werden? Wie könnten wir von den Afrikanern lernen? Einmal denke ich an eine junge Familie unserer Gemeinde, die bewusst wieder nach Zwickau in Rufweite der Eltern gezogen ist, weil sie das Problem erkannt haben. Dann erinnere ich mich an eine ältere Frau, die "wie eine Oma" für unsere Kinder da war, als wir in Luckau gelebt haben. Dort habe ich auch eine Handwerkerfamilie erlebt, die fast afrikanisch war: Vier Generationen haben unter einem Dach friedlich zusammengelebt. Andererseits denke ich an Neubauten auf dem Grundstück der Schwiegereltern, wo das Miteinander nicht funktioniert hat und es zu einer Scheidung kam. Wir sind vielleicht nicht mehr in der Lage, mit den Generationen vor und nach uns so zusammen zu leben, dass es allen damit gut geht?

Familie ist aber nicht das einzige Gegenmodell zur Vereinzelung. Unser Gemeinde-Motto sagt: "Leben teilen" Es gibt dafür radikale Beispiele: Silke und Christoph haben gerade die Bruderhöfe in England und Bad Klosterlausnitz besucht: wie in einem Kibbuz, wie in der Urgemeinde wird dort fast alles geteilt und gemeinschaftlich erlebt. Ich selber habe mal einen Monat bei "Chemin Neuf" (neuer Weg) mitgelebt: das ist eine katholische Kommunität, die in Frankreich und weltweit Lebensgemeinschaften gründet: mit gemeinsamen Gebetszeiten, gemeinsamem Besitz, aber auch Privaträumen für Familien, Singles und Paare aus allen Ländern und Schichten. Tilman Möller und seine Familie sind in die Kommunität Siloah eingetreten, die viele von der "Zeltstadt Siloah" her kennen – ein ähnliches christliches Lebensmodell ganz in unserer Nähe.

Auch wer (wie ich) nicht so einen radikalen Schritt machen möchte, sollte doch in der Gemeinde eine "Familien-Erweiterung" erleben können. Das fängt schon damit an, dass man sich gegenseitig einlädt nach dem Gottesdienst – oder zusammen in die Pizzeria geht, wie wir es mehrfach gemacht haben. Es geht damit weiter, dass die Hauskreise nicht nur Bibel-Gesprächsreise sind, sondern auch praktisch einander helfen und Leben teilen (wie z.B. der gemeinsame Kleingarten von Gentners und Königs). Annika Hirschs Initiative zu einer "Woche der Begegnung" ist da genauso wichtig wie die Aktionen des "Kompass-Teams". Über die Basar-Liste können wir noch mutiger Hilfe und gemeinsame Aktionen erbeten und wahrnehmen, als bisher. Ich finde es super, dass ein Paar aus unserer Gemeinde, das gerade umzieht, die Wohnung nicht allein streichen muss.

"Leben teilen" funktioniert aber nicht immer. Es gibt auch Enttäuschungen: Jemand bittet auf der Basar-Liste um Hilfe beim Umzug und niemand meldet sich. In meiner früheren Gemeinde kam am Heiligabend ein Wanderer zum Gottesdienst und fragte, ob er irgendwo übernachten könne? Keine Reaktion! So etwas hat meines Erachtens weniger mit Unwillen zu tun, als damit, dass wir alle so straff durchorganisiert sind und wir unseren ToDo-Plan nicht einfach umwerfen wollen. Vielleicht sollten wir unseren Lebensstil ändern, Stellenumfang reduzieren, Freizeitverpflichtungen absagen, damit wir freier werden, auch spontan zusammen zu kommen und auf unsere Mitmenschen einzugehen? Statt Netflix und Social Media – echten Menschen begegnen!

Auf jeden Fall ist Gemeinde ein Gegenmodell zu Einsamkeit und zur "Atomisierung" unserer Gesellschaft: "Leben teilen!" Oder mit dem Leitwort der Kommunität Volkenroda gesagt: "Die Tür steht offen, das Herz noch mehr!"